Leopold von Ranke

»Historiker, * 20.12. (nach Familientradition 21.12.) 1795 Wiehe/Unstrut (Thüringen), † 23.5.1886 Berlin, begraben Berlin, Sophienkirche.

R. stammte aus einem kursächs., seit 1815 preuß. Städtchen in der Goldenen Aue und wuchs in einem aufgeklärt-luth. Elternhaus auf. Nach dem Besuch der Klosterschule in Donndorf und der Fürstenschule in Pforta 1807–14 studierte er bis 1817 in Leipzig Klass. Philologie und ev. Theologie. Sein wichtigster Lehrer wurde Gottfried Hermann (1772–1838), der die ›Sprachphilologie‹ im strikten Sinne der Textkritik und -auslegung vertrat; R. lernte aber bei Christian Daniel Beck (1757–1832) zugleich die ›Realphilologie‹ kennen, der es primär um historisches Sachwissen zu tun war. Auch in der Theologie zogen ihn die philologisch-historischen ›Außenwerke‹ des Fachs an, während er sich von der im rationalistischen Geist betriebenen Dogmatik fernhielt. Am Vortrag der allgemeinen Geschichte störte ihn die zusammenhanglose Präsentation unverstandener Tatsachen. Neben seinen Studienfächern befaßte sich R. systematisch mit allen Richtungen der neueren dt. Literatur und Philosophie, ohne sich dabei an eine von ihnen zu binden; er las damals auch die ›Röm. Geschichte‹ von Barthold Georg Niebuhr (1776–1831): ›das erste dt. historische Buch, welches Eindruck auf mich hervorbrachte‹. Nachdem R. 1817 mit einer Disputation über Thukydides promoviert worden war, unternahm er eine Wanderung ins ›romantische‹ Deutschland, u.a. nach Heidelberg. 1818 legte er in Berlin die Prüfung für das höhere Lehramt ab und ging als Lehrer für Alte Sprachen und Geschichte an das Gymnasium in Frankfurt/Oder.

Mit seinem Erstlingswerk, den ›Geschichten der romanischen u. germanischen Völker‹ (1824), die die Kämpfe der europ. Mächte um Italien an der Wende vom 15. zum 16. Jh. behandeln, v.a. aber mit der Beilage ›Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber‹, in der er sein neues Programm der Quellenkritik vorführt, schaffte R. den Eintritt in die akademische Karriere. Er wurde 1824 ao., 1834 o. Prof. d. Geschichte an der Univ. Berlin (em. 1871). 1827 erhielt er Urlaub für eine Archiv- und Bibliotheksreise nach Wien und Italien, die sich bis 1831 hinzog; das hier gesammelte Quellenmaterial bildete die Hauptgrundlage für viele seiner späteren Werke. 1831 übertrug ihm die preuß. Regierung die Leitung der neugegründeten ›Historisch-politischen Zeitschrift‹, die zur Unterstützung der preuß. Politik nach der franz. Julirevolution von 1830 gedacht war; sie bekam unter seiner Leitung allerdings eher ein ›historisches‹ als ein ›politisches‹ Aussehen und mußte daher 1836 eingestellt werden. Dafür gelang R. mit der ›Geschichte der Päpste‹ (3 Bde., 1834–36) der endgültige historiographische Durchbruch; das durch seinen Gegenstand, seine Erkenntnismethode und seine literarische Form gleich aufsehenerregende Werk, das 1841, im Zuge des aufkommenden Ultramontanismus, auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde, machte ihn weltberühmt. 1858 richtete Kg. Maximilian II. von Bayern, der R. seit seiner Berliner Studienzeit 1831/32 verbunden war, auf dessen Veranlassung die Historische Kommission bei der Bayer. Akademie der Wissenschaften ein; R. wurde ihr Präsident und nahm wesentlichen Einfluß auf ihr Publikationsprogramm, zu dem v.a. Quelleneditionen zur dt. Geschichte gehörten.

R.s Interesse an der Geschichte ging aus den vielfältigen Studien seiner Jugendzeit hervor und hatte ein religiöses Grundmotiv: das Bedürfnis nach Anschauung und Verehrung Gottes in der Geschichte, dem er auf direktem Wege nicht nahezukommen vermochte. Statt sich auf den transzendenten Gott einzustellen, hielt er sich an die Immanenz Gottes in der Wirklichkeit, so daß ihm deren empirische Erforschung geradezu als priesterliches Amt erschien; seine schon im Erstlingswerk erhobene Forderung nach strikter historischer Objektivität, der Inbegriff seines Geschichtsdenkens, hatte darin ihre Begründung. Diese Anschauungsweise kam einer religiösen Legitimierung der Autonomie der Geschichtswissenschaft gleich.

Das Generalthema von R.s Historiographie ist die europ. Staatengeschichte der frühen Neuzeit. Er kam dazu durch Studien zu Renaissance und Reformation und wurde darin zunächst durch eher zufällige Quellenfunde festgehalten. Unter dem Eindruck der Julirevolution wurde aber ein politisches Erkenntnisinteresse maßgeblich. Angesichts der ideologischen Polarisierung Europas in die Lager von Revolution und Restauration, von Monarchie und Volkssouveränität hielt R. es für geboten, die historisch gewachsene Vielfalt der europ. Staatenverhältnisse aufzuweisen und damit die Gegenwart über ihre geschichtlichen Grundlagen aufzuklären. Dieses zuerst in der ›Historisch-politischen Zeitschrift‹, v.a. in den Artikeln ›Die großen Mächte‹ (1833) und ›Politisches Gespräch‹ (1836), später auch in den vor Maximilian II. gehaltenen Vorträgen ›Ueber die Epochen der neueren Geschichte‹ (1854) ausgearbeitete Konzept blieb fortan für R.s Geschichtsschreibung bestimmend. Nachdem er in seinem Erstlingswerk sowie in den ›Fürsten und Völkern‹ (1827), einer vergleichenden Darstellung des osman. Reichs und Spaniens im 16. und 17. Jh., die Anfänge des europ. Staatensystems behandelt hatte, eröffnete er mit den ›Päpsten‹ die Reihe seiner großen Werke über die Hauptakteure des Systems, die er jeweils im Zenit ihrer inneren Ausprägung und ihrer europ. Geltung vorführte, mit besonderem Blick auf die Wechselwirkungen zwischen äußerer und innerer Politik sowie das Verhältnis von Staat und Kirche, auch unter Berücksichtigung der Literaturgeschichte und immer im Zusammenhang mit der Entwicklung der anderen europ. Staaten. Auf die ›Päpste‹ folgte, auch aus konfessionellen Motiven, die ›Dt. Geschichte im Zeitalter der Reformation‹ (6 Bde., 1839–47); danach erschienen die ›Preuß. Geschichte‹ (3 Bde., 1847–48), die ›Franz. Geschichte‹ (5 Bde., 1852–61) und die ›Engl. Geschichte‹ (7 Bde., 1859–68); die bis zum 15. Jh. reichende ›Weltgeschichte‹ (9 Bde., 1881–88) lieferte nachträglich die gemeinsame Vorgeschichte.

Im Anschluß an Niebuhr gründete R. seine Geschichtsschreibung auf Geschichtsforschung in einem bisher nicht dagewesenen Sinne. Er sah die Aufgabe des Historikers nicht mehr darin, die Berichte früherer Geschichtsschreiber weiterzugeben, sondern forderte von ihm die selbständige Rekonstruktion der Vergangenheit aus den primären Quellen. An die Stelle der Tradition vorhandenen Wissens sollte die unablässige Produktion neuen Wissens treten. Das bedeutete, daß die Quellenarbeit, die es an sich schon seit dem Humanismus gab, einen ganz anderen Umfang und eine ganz andere Intensität erhielt. R. zog v.a. Gesandtschaftsberichte, darunter die berühmten venezian. Relationen, aber auch Reichstagsakten, Parlamentsprotokolle und Flugschriften heran. Zugleich war er bemüht, die Regeln der Quellenkritik und -interpretation, die ihm als eigentlicher Ausweis einer wissenschaftlichen Vorgehensweise galten, fortgesetzt zu verfeinern; sein seit 1833 bestehendes Berliner Seminar diente wesentlich dazu. Aus ihm sind seine Schüler hervorgegangen, die diese Praxis auf andere Universitäten übertrugen: allen voran Georg Waitz (1813–86), Wilhelm Giesebrecht (1814–89) und Heinrich v. Sybel (1817–95); ihre eigenen Schüler wie Karl Theodor Heigel (1842–1915), Max Lenz (1850–1932) und Hermann Grauert (1850–1923) sorgten für weitere Verbreitung. Sybel hatte daher nicht Unrecht, wenn er R.s Schule 1885 geradezu ›die historische Schule Deutschlands‹ nannte. R.s Forschungsmethode setzte sich aber auch außerhalb Deutschlands durch, v.a. in der angelsächs. Welt, wo Autoren wie William Stubbs (1825–1901), Historiker in Oxford, vermittelnd wirkten.

R. kam es immer auch auf die literarische Seite der Historiographie an. Es war sein erklärtes Ziel, Geschichte zu schreiben, die sowohl wissenschaftlichen wie künstlerischen Ansprüchen genügte. In seinen Anfängen von den historischen Romanen Walter Scotts tief beeindruckt, wollte er nachweisen, ›daß das historisch Ueberlieferte selbst schöner und jedenfalls interessanter sei, als die romantische Fiction‹. Die Forschung schien sich ihm in der angemessenen Darstellung zu erfüllen. R. hat dadurch in neuester Zeit besonderes Interesse auf sich gezogen.

Er erschien schon seinen Zeitgenossen als überragender Historiker und personifiziert bis heute die im Zeichen des Historismus erneuerte dt. Geschichtswissenschaft. Freilich war er niemals unumstritten. Er sah sich von Spätaufklärern wie Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861) und Hegelianern wie Heinrich Leo (1799–1878) sowie von ultramontanen und borussisch-kleindt. Historikern wie dem jüngeren Ignaz Döllinger (1799–1890) und Johann Gustav Droysen (1808–84) angefeindet; im 20. Jh. wurde er für die Kritiker des Historismus zur Zielscheibe. Andererseits gab es immer wieder Phasen der ›R.-Renaissance‹ oder R.-Rehabilitierung. Gegenwärtig geht es hauptsächlich darum, R.s Standort in der Formierungsgeschichte der modernen Geschichtswissenschaft weiter zu präzisieren.«

Muhlack, Ulrich, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 140–142

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