Wilhelm von Giesebrecht

»Historiker, * 5.3.1814 Berlin, † 18.12.1889 München. (evangelisch)

Im Geiste seiner mecklenburgischen Vorfahren zu gläubigem Luthertum und preußisch-deutschem, vom Geiste Jahns mitbestimmtem Patriotismus erzogen, studierte Giesebrecht, von seinem Oheim Ludwig Giesebrecht beraten und alsbald von der Philosophie Hegels abgeschreckt, seit 1833 an der Universität seiner Vaterstadt. Sofort zog ihn Ranke in den Bann seiner Übungen und bald in den Kreis der Bearbeiter der ›Jahrbücher der Deutschen Geschichte‹. Als ›Adjunkt und Lehrer‹ am Joachimsthaler Gymnasium gab Giesebrecht 1840 die Jahrbücher Ottos II. heraus, wie sein Schul- und Lebensfreund Rudolf Köpke die Jahrbücher Ottos I. Im nächsten Jahr (1841) gelang seinem philologischen Scharfsinn die durch späteren Fund des Gesamttextes bestätigte Rekonstruktion der für die Geschichte Heinrichs III. wichtigen Annalen von Niederaltaich aus späten und verstreuten Fragmenten. Ein daraufhin gewährtes staatliches Stipendium ermöglichte eine Reise nach Italien, deren Frucht neben Texten und Studien zur mittelalterlichen Papstgeschichte die damals bahnbrechende Schrift ›über die wissenschaftlichen Studien der Italiener des frühesten Mittelalters‹ wurde.

Giesebrechts Generation geltende Einheit von Gelehrsamkeit, Poesie und Politik äußerte sich in Giesebrechts hohen Jahren in der Neigung zu fein stilisierten populärwissenschaftlichen Reden und Schriften, nachdem Ranke schon dem Studenten dramatische Aspirationen ausgeredet hatte. Ihm gebotene journalistische Möglichkeiten nahm Giesebrecht nicht wahr; doch wirkte der 1846 zum Oberlehrer Aufgerückte, von den Berliner Märztagen des Jahres 1848 angewidert, seit Mai 1848 führend in dem ›für Königtum, Volksrecht und Volkswohl‹ eintretenden ›Patriotischen Verein‹. Er schloß seine politische Tätigkeit ab, nachdem er sich noch an der Abfassung von Manifesten für das Erfurter Unionsparlament beteiligt hatte. 1851 zum Professor ernannt, veröffentlichte Giesebrecht eine Übersetzung der ›Zehn Bücher Fränkischer Geschichte‹ des Gregor von Tours, 1852 eine Arbeit über die Quellen der frühesten Papstgeschichte, 1853 eine schwungvolle Würdigung der ›Vaganten oder Goliarden und ihrer Lieder‹. 1855 erschien der 1. Band des Werkes, das Giesebrecht bis zu seinem Tode begleitete: ›Geschichte der Deutschen Kaiserzeit‹. Der Band brachte Giesebrecht, der 1852 einen Ruf König Max' II. nach München unter Hinweis auf sein Preußentum und auf seine Konfession abgelehnt hatte, Berufungen nach Greifswald und nach Königsberg ein. 1857 ordentlicher Professor der Geschichte in Königsberg, wurde Giesebrecht 1858 Mitglied der eben von König Max unter Rankes Beratung gegründeten und von H. von Sybel organisierten Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und dieser Akademie selbst. Als Sybel, der seine Historische Zeitschrift 1859 mit Giesebrechts Aufsatz über ›Die Entwicklung der modernen deutschen Geschichtswissenschaft‹ eröffnet hatte, dem Widerstand katholischer und stark bayerisch fühlender Kreise gegen seine kleindeutsche Gesinnung, auch der Erregung über seine gegen Giesebrechts 1. Band gerichtete Akademierede von 1859 (›Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit‹) 1861 nach Bonn auswich, berief der König Giesebrecht zum 2. Mal, diesmal mit Erfolg – ein Kompromiß zwischen Sybelschen Vorschlägen und dem Wunsch seiner Gegner, den großdeutschen, in Innsbruck lehrenden Julius Ficker berufen zu sehen. Giesebrecht, Protestant und Preuße, aber nicht wie Sybel preußischer Politiker, übte als gütiger, vielleicht auch ›weicher‹ (J. F. Böhmer), jedenfalls versöhnlicher Mann seit der überfüllten Antrittsvorlesung des Nachfolgers ›des berühmten und berüchtigten Sybel‹ (Lord Acton), nach dem raschen Abflauen von Angriffen, die sogar 1866 nur kurz aufflackerten, eine die ganze Geschichte umfassende Lehrtätigkeit aus. Wie Sybel hatte Giesebrecht die Leitung des in eine kritische und eine pädagogische Abteilung gegliederten Historischen Seminars, welche dem seit 1856 in München tätigen geistreicheren Cornelius versagt blieb. Mit seinen Vorlesungen und seinen sehr schulmäßig gehaltenen Seminaren wirkte Giesebrecht auf eine große Zahl künftiger Gymnasiallehrer, obwohl er sich vergeblich bemühte, ›nach preußischem Muster‹ die ›prinzipielle Übertragung des Geschichtsunterrichts am Gymnasium an Fachleute durchzusetzen‹ (Riezler); dagegen bekannten sich von akademischen Lehrern der nächsten Generation als Giesebrechts Schüler nur Riezler, Heigel und Simonsfeld, die eben als Bayern in München studiert hatten. Konnte sich die Münchener Schule Giesebrechts mit der von G. Waitz in Göttingen und Berlin nicht messen, so hatte Giesebrecht das Verdienst, die kritische Schule Rankes nach München übertragen und den Wunsch des Königs Max nach quellengemäßem, ruhigem und wohlgeformtem Vortrag der Geschichte in Literatur, Universität und Schule erfüllt zu haben. Dem Wirken Giesebrechts für die Neuordnung der bayerischen Schulen entsprach seine Berufung in den unter seiner Beratung geschaffenen Obersten Schul-Rat, seiner Kirchlichkeit die Arbeit im Kirchenvorstand der evangelischen Gemeinde Münchens, seiner Gelehrsamkeit sein Wirken im Gelehrten- und Verwaltungsausschuß des Germanischen Nationalmuseums. Seine damaliger Besorgnis vor Überlastung der Gymnasiasten entgegentretenden ›Pädagogischen Briefe‹ (1883) verkannten doch wohl Zeichen der Zeit. Der Historischen Kommission war ihr langjähriger Sekretär umso wichtiger, als der gütige Gastgeber der Jahresversammlungen seit 1873, seitdem Ranke nicht mehr kam, auch die ganze geschäftliche und wissenschaftliche Last trug. Als Nachfolger Döllingers seit 1873 Sekretär der Historischen Klasse der Akademie, vertrat er diese mit immer versöhnlichen, wenn auch nicht stets praktischen und gegenüber dem überlegenen Waitz sich nicht durchsetzenden Vorschlägen bei den Auseinandersetzungen, welche der Übergang der Leitung der Monumenta Germaniae von Pertz zu Waitz und die Bildung der neuen Zentraldirektion (1876) mit sich brachten.

Giesebrecht führte die ›Geschichte der Deutschen Kaiserzeit‹ bis etwa 1180; die letzte ›Zeit Kaiser Friedrichs des Rotbarts‹ wurde von seinem Königsberger Schüler Bernhard Simson bearbeitet. Das Werk war einer der wenigen großen Bucherfolge kritischer Geschichtsschreibung, seit 1879 nur übertroffen durch Treitschkes ›Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert‹. Das lesende Publikum, seit Friedrich von Raumers Geschichte der Hohenstaufen mittelalterlich-vaterländischen Stoffen nicht mehr fremd, nahm nach dem Scheitern des Kaisergedankens von 1848 im Zeitalter eines unwiderstehlichen Nationalgedankens die in Deutschland zum ersten Mal gelungene Verbindung von ›höchster Gelehrsamkeit und den leichteren Elementen der Popularität‹ (Lord Acton) willig auf, die ihm das Licht der Hoffnung nach rückwärts entzündete, die Vergangenheit abendrötlich verklärte, ohne die Gegenwart ›mittelalterlich‹ mißverstehen zu wollen. Seinem Publikum – es sei vertreten durch die temperamentvolle Baronin Spitzemberg, deren Tagebuch gespannte Giesebrecht-Lektüre verrät – mutete Giesebrecht das ihm selbst Fremde nicht zu, philosophische Besinnung und politisches Urteil. Seine schöne, wohl auch verschönende, stellenweise spannende Erzählung wollte vaterländische Erziehung der Jugend sein, sie war Erbauung, und sein Werk ist mehr, als es, so stark es die Stimmung der 50er und 60er Jahre formte, die Zeit wirklich beeinflußte, ›in die Zeit und deren Bewegung hineingewachsen‹ (Ranke). Wenn die Geschichte der Deutschen Kaiserzeit nach Rankes rühmendem Wort eine ›zugleich männliche und doch kindliche Darstellung‹ ist, wenn der Stoff, nach Lord Acton, ›weder eine protestantische Kirche noch einen preußischen Staat einbegriff‹ und dem Autor ›sichere Entfernung von der praktischen Politik‹ gewährte, so brachte Giesebrechts Epik auf die Dauer nicht Klärung, sondern Unscharfe des nationalen Bewußtseins. Auf Giesebrecht und den Satz des Vorwortes von 1855 (die Kaiserzeit sei ›die Periode, in der unser Volk, durch Einheit stark … auch anderen Völkern gebot …‹) konnte sich nach der Reichsgründung ein vulgärer ›Imperialismus‹ berufen, der dem Humanisten und Christen Giesebrecht fremd war (›der hoffende Glaube ist die nachhaltigste Wehr gegen schwächlichen Kleinmuth und frevelnden Übermuth‹, 2. Auflage des 1. Band), wenn er auch früh – tschechischen – Widerspruch erregte. Aber mit Überschätzung des Kaisertums und deutschromantischer Unterschätzung des hochmittelalterlichen Frankreich bahnte er eine bedenkliche Selbstisolierung des deutschen geschichtlichen Selbstbewußtseins an, und Giesebrecht isolierte sich selbst, wenn er es zeitlebens ablehnte, Frankreich als den Boden von ›Corruption‹ und Republikanismus aufzusuchen.

War die Zeit vor 1866 in politischer Beziehung die gute, von der Reichsgründung überholte Stunde von Giesebrechts Lebenswerk, so begann Giesebrecht dieses auch in wissenschaftlicher Hinsicht unter einem günstigen, schon während der Abfassung des Werkes verblassenden Sterne. Die Kritik der Quellen war noch neu genug, um auch ohne Kritik der Sachen ein Verdienst zu sein; noch konnten Urkunden und Akten ohne viel Diplomatik der Kontrolle der erzählenden Quellen dienen, denen Giesebrecht mit meisterhafter Auswahl nacherzählte. Wie die Urkunden zurücktreten, so sind die Zustände, die rechtlichen und gar die wirtschaftlichen, aber auch die kulturellen Verhältnisse vernachlässigt. Kraftvoll oder schwach handeln die Könige, treu oder rebellisch die Großen, alles ist auf die Personen gestellt wie auf den Bildern der gleichzeitigen Historienmalerei. Aber eben dieses epische, ja dramatische Element, aller Historie unverlierbar, garantiert bis heute dem veralteten Werke Dauer, und die wissenschaftliche Treue der Erzählung wie der den Bänden beigegebenen ›Beweise‹ machen die ›Kaiserzeit‹, zumal wo neuere Bearbeitungen der ›Jahrbücher‹ fehlen, noch immer zu einem Behelf der Forschung und zu einem Zeugnis verehrungswürdiger Gelehrsamkeit.«

Heimpel, Hermann, in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 379–382

Bücher des Autors

8 Treffer

Sechster Band: Die letzten Zeiten Kaiser Friedrichs des Rothbarts. Nebst Anmerkungen und Register zu Band V und VI. Hrsg. und fortgesetzt von Bernhard von Simson

1895. XIII, 814 S.
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Dritter Band: Das Kaiserthum im Kampfe mit dem Papstthum. (2 Bde.: XXXI, 771 S.; S. 773–1323)

1890. 5. Aufl.. XXXI, 1323 S.
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Fünfter Band: Die Zeit Kaiser Friedrichs des Rothbarts. Erste Abtheilung: Neuer Aufschwung des Kaiserthums unter Friedrich I. Zweite Abtheilung: Friedrichs I. Kämpfe gegen Alexander III., den Lombardenbund und Heinrich den Löwen

1888. I: VIII, 445 S. 1880; II: VII, S. 446–979.
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Zweiter Band: Blüthe des Kaiserthums

1885. 5. Aufl.. 1 Abb.; XVI, 753 S.
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Erster Band: Gründung des Kaiserthums

1881. 5. Aufl.. 1 Karte; XLII, 934 S.
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Erste Abtheilung: Neuer Aufschwung des Kaiserthums

1880. VIII, 445 S.
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Vierter Band: Staufer und Welfen

1877. 2. Aufl. (Zur 4. Aufl. von Band I–III).. XX, 555 S.
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