Ludwig Gumplowicz

»Staatsrechtler und Soziologe, * 9.3.1838 Krakau, † 19.8.1909 Graz. (evangelisch)

Nach einem Studium der Jurisprudenz und der Nationalökonomie an den Universitäten Krakau und Wien 1858–61 wurde Gumplowicz 1862 Advokat in Krakau. Bis er aus politischen Gründen 1875 polnisches Gebiet, das er später nie wieder betreten hat, verließ, wirkte der nationalistisch gesinnte und mit großem Enthusiasmus für die Unabhängigkeit Polens kämpfende Gumplowicz als Führer radikal-demokratischer Kreise. Nach der politisch motivierten Ablehnung seines Habilitationsgesuches durch die Krakauer Universität (1866) betätigte er sich als Redakteur der demokratischen Zeitung ›Kraj‹ (Das Land). Nach deren Liquidation wies ihn sein früherer akademischer Lehrer E. Demelius nach Graz, das ihm zur neuen Heimat wurde. 1875 habilitierte er sich hier mit seiner bedeutsamen Schrift ›Rasse und Staat‹ (1875), dem Grundstein seiner Rassenkampftheorie. 1882 wurde er außerordentlicher und 1893 ordentlicher Professor für Staatsrecht daselbst. In den dreieinhalb Jahrzehnten seiner Grazer Lehr- und Forschungstätigkeit, während der er nur einmal während einer Reise nach Venedig über Österreichs Grenzen hinauskam, erlangte der sehr zurückgezogen lebende Gelehrte internationale Geltung. ›Der Rassenkampf‹ (1883, 1902, polnische, französische, spanische Übersetzungen), in dem er die gesellschaftsbestimmende und staatsbildende Kraft des Rassenfaktors, die Entstehung des Staates aus dem Kampf der ethnischen Gruppen um die Herrschaft, behandelte, wurde in viele Sprachen übersetzt und vor allem in Frankreich, Deutschland und Italien erregt diskutiert. 1885 erschien sein ›Grundriß der Soziologie‹ (französische, russische, englische, japanische Übersetzungen), der als ein Versuch gedacht war, einen ›einheitlichen Gesamtplan‹ der Soziologie zu entwerfen. Es war das erste deutschsprachige Werk, das unter dem Titel ›Soziologie‹ publiziert wurde. Unter dem Einfluß von Positivismus, Sozialdarwinismus, Voluntarismus, besonders von Comte, Darwin, Spencer, betrachtete Gumplowicz die Soziologie als reine Naturwissenschaft; als Triebfeder des Sozialprozesses sah er den Kampf aller gesellschaftlichen Gruppen um die Macht für ihre Interessen und für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse an. Sein Glaube an absolute Entwicklungsgesetze der Gesellschaft führte ihn zu einem wissenschaftlichen Dogmatismus. Doch kommt Gumplowicz, der auch als einer der ›Begründer der deutschen Soziologie‹ bezeichnet wird, das|unbestreitbare Verdienst zu, auf die zentrale Bedeutung der sozialen Gruppe und der Gruppenkonflikte für die soziologische Forschung hingewiesen zu haben. Seine zahlreichen und einst weit verbreiteten staatsrechtlichen Arbeiten fanden ihre Krönung in der Formulierung des soziologischen Staatsbegriffs, nach dem der Staat immer und überall eine ›Klassenorganisation‹ (Oppenheimer) war, eine Organisation der Herrschaft einer Minorität über eine Majorität. Insbesondere ›Die soziologische Staatsidee‹ (1892, 1902), die die Entstehung des Staates, den Zusammenhang zwischen Entstehungsart und Entwicklung des Staates und die staatlichen Institutionen, die dessen Bestand garantieren, enthält, hat Gumplowicz eine gewichtige Position in der Geschichte der Soziologie gesichert. Der polyglotte, bis ins hohe Alter geistig ungewöhnlich rege und politisch interessierte, streitlustige, aber doch bescheidene und gütige Mann hat auf viele seiner Zeitgenossen eine große Wirkung ausgeübt. L. Ward, G. Tarde, E. Durkheim, M. Vaccaro, N. Colajanni, G. Simmel wurden von ihm beeinflußt, sein Schüler und Freund Gustav Ratzenhofer und vor allem Franz Oppenheimer sorgten für eine Weiterführung seiner Gedanken. Ein Jahr nach seiner Emeritierung (1908) wählte der an unheilbarem Zungenkrebs Erkrankte gemeinsam mit seiner erblindeten Lebensgefährtin den Freitod.«

Reimann, Horst, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 307–308

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