Hans Nawiasky

»Jurist, * 24.8.1880 Graz, † 11.8.1961 Sankt Gallen. (katholisch)

N. studierte nach dem Schulbesuch in Graz und Frankfurt/Main Rechts- und Staatswissenschaften in Wien, Berlin und wiederum Wien, wo er 1903 die judizielle und staatswissenschaftliche Staatsprüfung ablegte. Im selben Jahr promovierte er bei E. Philippovich mit einer.staatswissenschaftlichen Arbeit (Die Frauen im österr. Staatsdienst, 1902). 1909 habilitierte er sich – beruflich seit 1903 in der k.u.k. Postverwaltung tätig – mit einer öffentlichrechtlichen Arbeit (Deutsches und österr. Postrecht, Der Sachverkehr, Ein Btr. z. Lehre v. d. öffentl. Anstalten, 1909). 1910 nahm er als Privatdozent (1914 Titular-Prof.) die Lehrtätigkeit an der Univ. Wien auf. Es war die Zeit, in der Hans Kelsen in Wien die Reine Rechtslehre begründete. N. war ihr immer verbunden, prägte sie jedoch auf eigene Weise aus. Am 1. Weltkrieg nahm er als höherer Offizier der k.u.k. Feldpost teil.

Schon 1914 war N. an die Univ. München umhabilitiert worden. 1919 wurden ihm dort Titel und Rang eines ao. Professors verliehen. 1922 wurde er zum ›etatmäßigen ao. Professor für Staatsrecht mit der Verpflichtung zur Abhaltung von Vorlesungen über Verwaltungsrecht, insbesondere Finanz- und Arbeitsrecht, Verwaltungslehre und österr. öffentliches Recht‹ ernannt. Offenbar sollte er gerade auch auf die neu an das öffentliche Recht herantretenden Herausforderungen antworten. 1928 wurde er zum Ordinarius ernannt. 1929 wurde an der Univ. München ein Institut für Reichs- und Landesstaats- und Verwaltungsrecht errichtet und N.s Leitung unterstellt.

Seine Publikationstätigkeit in München eröffnete N. mit seinem grundlegenden Werk zur Bundesstaatstheorie (Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, 1920), worin er gleiche Souveränität für Zentralstaat und Gliedstaaten in Anspruch nahm. N. gab damit dem Verständnis des Bundesstaates einen Impuls von bleibender Wirksamkeit. Zugleich begann eine lange Reihe von Arbeiten zum Staatsrecht der Weimarer Republik und zur bayer. Verfassung. Von besonders nachhaltiger Wirkung sollten seine – eher seltenen – verwaltungsrechtlichen Arbeiten sein, insbesondere zum Steuerrecht. In München baute er die Verwaltungsakademie auf. N. wurde bald zum wichtigsten staatsrechtlichen Berater der bayer. Staatsregierung. 1928–30 war er Mitglied des Verfassungsausschusses der Länderkonferenzen, mehrfach beauftragte ihn die bayer. Staatsregierung mit ihrer Vertretung vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Gegen Ende der Weimarer Zeit wurde N. immer mehr zur Zielscheibe nationalsozialistischer Angriffe. 1931 kam es zu den ›Münchener Universitätskrawallen‹. Wegen einer relativierenden Äußerung N.s zum Versailler Vertrag störten Nazis die Universität in einem Maße, daß sie wochenlang geschlossen bleiben mußte. 1933 wurde N. schon in den ersten Tagen nach der ›Machtübernahme‹ durch einen Überfall auf seine Wohnung vertrieben.

N. emigrierte in die Schweiz. Die Handelshochschule St. Gallen erteilte ihm einen Lehrauftrag, der dann zum Extraordinariat, schließlich zum Ordinariat ausgebaut wurde. N. arbeitete sich nicht nur in das Schweizer Staatsrecht (besonders in die unmittelbare Demokratie) ein. Er interessierte sich auch wieder für das (inzwischen ständestaatliche) österr. Recht und erschloß sich das liechtenstein. Recht. Daneben entstanden Arbeiten zum Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht. Größtes Gewicht erlangte die Entwicklung seiner Allgemeinen Rechtslehre und seiner Allgemeinen Staatslehre. Diese zeichnet sich dadurch aus, daß sie den Staat komplementär als Idee, als soziale Tatsache und als rechtliches Phänomen betrachtet.

Nach dem 2. Weltkrieg warb N., der auch in der Schweiz noch nationalsozialistischen Bedrohungen ausgesetzt gewesen war, für eine gerechte Beurteilung des deutschen Volkes. Es sollte die Chance der Demokratie haben. 1946 holte ihn Wilhelm Hoegner, der zweite Nachkriegsministerpräsident Bayerns, nach München zurück. N. spielte als Berater der verfassungsgebenden Landesversammlung und der Staatsregierung eine zentrale Rolle beim rechtlichen Wiederaufbau Bayerns und bei der Gestaltung der Bayer. Verfassung. Dazu nahm er 1947 seine Professur an der Univ. München wieder auf, die nun einfacher auf ›Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht‹ lautete. Er erwarb in München ein kleines Haus, jedoch behielt er auch Professur, Lehrtätigkeit und Familienwohnsitz in St. Gallen bei. 1948 war er an den Arbeiten des Herrenchiemseer Konvents zur Vorbereitung des Grundgesetzes beteiligt. Sein schriftstellerisches Werk war in diesem letzten Lebensabschnitt immer wieder der Bayer. Verfassung und dem Grundgesetz gewidmet. Früh nahm er aber auch zum Werden eines europ. Verfassungsrechts Stellung. Mit Arbeiten zum ›überpositiven Recht‹ griff er in die Debatte ein, die in der nationalsozialistischen Entartung des Rechts eine Folge des Positivismus sah. Vor allem aber vollendete er nun seine ›Allgemeine Staatslehre‹.«

Zacher, Hans F., in: Neue Deutsche Biographie 10 (1998), S. 4–6

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