Rudolph Sohm

»Jurist, * 29.10.1841 Rostock, † 16.5.1917 Leipzig. (lutherisch)

Nach Abschluß seiner Schulzeit in Rostock begann S. 1860 das Studium der Rechtswissenschaften in seiner Geburtsstadt, wechselte 1861/62 nach Berlin, dann nach Heidelberg und kehrte 1863 nach Rostock zurück, wo er 1864 mit einer von der Fakultät preisgekrönten, unter der Betreuung Georg Wilhelm Wetzells (1815–90) angefertigten Arbeit über das röm. Pfandrecht promoviert wurde. Sein Interesse an der fränk. Rechtsgeschichte führte S. 1865 nach München zu Paul (v.) Roth (1820–92) und mündete 1866 in die Habilitation für dt. Recht und Handelsrecht an der Univ. Göttingen mit einer Arbeit ›Über die Entstehung der Lex Ribuaria‹, deren Textgestalt S. 1883 für die MGH auch editorisch bearbeitete. 1870 zum ao. Professor in Göttingen ernannt, wurde S. im selben Jahr mit Unterstützung Karl Bindings (1841–1920) als o. Professor für dt. Recht und Kirchenrecht nach Freiburg (Br.) berufen und wechselte 1872 an die Univ. Straßburg (Rektor 1884/85). 1887 folgte S. einem Ruf an die Univ. Leipzig. 1891–96 war er nichtständiges Mitglied der zweiten BGB-Kommission und zugleich Kommissar des Bundesrates. Der bürgerlichen Sozialreformbewegung nahestehend, beteiligte sich S. 1896 an der Gründung des Nationalsozialen Vereins Friedrich Naumanns.

Der Schwerpunkt seines Wirkens bewegte sich im Spannungsfeld von Kirchenrecht, Rechtsdogmatik und dem röm. Recht, zu dem S. 1883 ein weitverbreitetes Lehrbuch verfaßte. Kennzeichnend für S.s Werk war die begrifflich-konstruktive Erfassung rechtlicher Normativität, auch wenn er das geltende Recht als Ergebnis historischer Entwicklungen deutete. Seinem 1909 formulierten Postulat zufolge konnte nur ›die Begriffsjurisprudenz‹ ›die geistige Herrschaft über den in unzähligen Gesetzen angehäuften Stoff‹ vermitteln. Die Arbeit über den ›Prozesz der Lex Salica‹ (1867, Neudr. 1971, franz. 1873) und die durch die Forschungen Roths angeregte Arbeit über die ›fränk. Reichs- und Gerichtsverfassung‹ (1871) bewegten sich ganz auf dieser Linie begrifflicher Rekonstruktion. Hier wurde versucht, die These zu begründen, daß schon in fränk. Zeit ein ausgeformtes Staatswesen existiert habe, in dem ›ein souveränes Königtum‹ lediglich ›durch den Inhalt der Staatsgewalt‹ beschränkt gewesen sei. Hinter dieser These, die insbesondere gegen Otto v. Gierkes (1841–1921) Konzeption einer genossenschaftlichen Herrschaftsordnung im mitteleurop. Frühmittelalter gerichtet war, stand eine zutiefst etatistische Rechtsvorstellung, für die sich ›der Begriff des Staats (...) aus dem Begriff des Rechts‹ ergab. In dieser Perspektive wurde der staatliche Zwang zum Inbegriff des Rechts. Dem stellte S. die Kirche gegenüber, die er 1872 als ›dem Staat ethisch gleichgeordnet, rechtlich untergeordnet‹ beschrieb. Dieser Dualismus von rechtlicher und geistlicher Sphäre bestimmte weite Teile von S.s Werk konzeptionell: So gestand er 1875–81 zwar in mehreren Arbeiten der kirchlichen Trauung im Verhältnis zur 1875 eingeführten obligatorischen Zivilehe Verbindlichkeit zu und plädierte 1881 sogar für die Einführung der lediglich fakultativen Zivilehe. Doch 1891 bekannte er sich zum Gegensatz zwischen ›ausschließlich rechtlichem‹ Gehalt der Zivilehe und ›ausschließlich geistlichem‹ Inhalt der kirchlichen Trauung. In seinem grundlegenden Werk ›Kirchenrecht‹ Bd. I (1892, Neudr. 1970) mündeten diese Überlegungen in die These, ›Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch‹. Kirche in diesem Sinn war für S. keine historische Größe, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen, die S. allein in der charismatischen Ordnung der urchristlichen Gemeinde des 1. Jh. und im Kirchenbegriff Luthers verwirklicht sah. Dieser Perspektive entsprach auch S.s 1909 einsetzende Kritik am Lehrbeanstandungsverfahren der preuß. Landeskirche, insbesondere im Fall von Carl Jatho. Vor allem aber machte S. ›Wesen und Ursprung des Katholizismus‹ (1909) in der Verrechtlichung der Kirche aus. Damit beschrieb er den Katholizismus als Selbstentfremdung der Kirche von ihren ideellen Ursprüngen, auch wenn er seit 1913/14 die Existenz eines ›altkatholischen‹ Kirchenrechts in der Zeit bis zum 12. Jh. zugestand, das, basierend auf der Sakramentsverfassung, dem charismatischen Ursprung der Kirche nahe stand. Obwohl schon zu seinen Lebzeiten insbesondere durch Adolf v. Harnack (1851–1930) heftig kritisiert, haben S.s kirchenrechtliche Thesen die Debatte über das Verhältnis von Kirche und Recht bis heute mitgeprägt.«

Thier, Andreas, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 539–541

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