Philipp Lotmar

»Jurist, * 8.9.1850 Frankfurt/Main, † 29.5.1922 Bern.

Der bedeutende Pandektist und Romanist L. war zugleich der Begründer der deutschen Arbeitsrechtswissenschaft. Das Fundament seines Wirkens bilden eindringliche rechtsphilosophische Studien. Dieser Trias von Historie, Privatrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie bzw. -politik gab L. eine besondere Note durch ungewöhnliche methodische und soziale Modernität. Wie bei seinem Freund Theodor Loewenfeld hängt dies mit den besonderen Widerständen zusammen, die sich im Kaiserreich Wilhelms II. einer Verbindung von Pandektenjurisprudenz, Professorenlaufbahn, Judentum und Sozialismus entgegenstellten.

L. studierte seit 1869 Jurisprudenz in Heidelberg und Göttingen, u.a. bei Jhering, seit 1871 in München, besonders bei dem von ihm menschlich wie wissenschaftlich bewunderten Aloys Brinz. Nach dem 1. Staatsexamen 1873 in Berlin promovierte er 1875 in München, wo er sich auch 1876 im Röm. Recht habilitierte. In dieser Zeit entstand die lebenslange intensive Freundschaft zu Loewenfeld und K. v. Amira. In der zwölfjährigen Münchener Privatdozentenzeit lehrte L. regelmäßig röm. Privat- und Prozeßrecht, daneben auch Handels- und Wechselrecht und röm. Rechtsgeschichte. Schon jetzt gab er seiner Lebensarbeit die dreifache Ausrichtung auf das romanistische Großprojekt über den ›Error‹ (seit ca. 1883), das rechtsphilosophisch-politische Reflektieren in ersten, Allgemeinverständlichkeit suchenden Vorträgen von 1880/81 (gedruckt erst 1893/98) und das daraus hervorwachsende Arbeitsrechtswerk von 1902/08. Sein trotziger Eintritt in die SPD unmittelbar nach Erlaß des Sozialistengesetzes (ca. 1878/79) bekräftigt nur den tiefen praktischen Ernst dieses Lebensplans. Bei solcher Eigenwilligkeit blieb auch für einen ›Lieblings- und Musterschüler‹ (Landsberg) des großen Brinz ein Ruf im Deutschen Reich aus. Aber aus der ›staatsbürgerlich entwickelteren‹ (Lotmar) Schweiz berief man L. Ende 1888 als Nachfolger des Romanisten und Kathedersozialisten Julius Baron auf den Lehrstuhl für Röm. Recht in Bern, den er bis zu seinem Tode innehatte. Er erwarb sich höchste fachliche und menschliche Anerkennung, gleich geschätzt als glänzender Lehrer, scharfsinniger Romanist, bedeutender Arbeitsrechtler und Rechtspolitiker (etwa zum Zivilgesetzbuchentwurf 1911), gestreng-gerechter Kollege und leidenschaftlicher Humanist. Zugleich blieb L. zeitlebens Deutscher, ja im 1. Weltkrieg opferte er sein Vermögen für Kriegsanleihen. Eigensinnig verband er in seinem Leben nationale, liberale, soziale und humane Momente.

L.s wissenschaftliches Lebenswerk zeugt von beharrlicher Energie und von großer analytischer Gestaltungskraft. Als Romanist wie als Arbeitsrechtler lieferte er außer mehreren Monographien und größeren Aufsätzen je ein magnum opus: das fast vollendete ›Röm. Recht vom Error‹ und die gut 1800 Seiten über ›Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches‹ (2 Bde., 1902/08). Dieses Werk hat Epoche gemacht als erste umfassende rechtswissenschaftliche Bearbeitung der gesamten Vertragsverhältnisse des Arbeitens, Dienste-Leistens und Werke-Erbringens einschließlich der sog. Tarifverträge. Es überwand die Abstinenz und Zersplitterung in Dogmatik und Gesetzgebung und empfahl L. als gesuchten Gutachter. In seinen bedeutenden rechtsphilosophischen Abhandlungen begründet er einen eigenständigen, kritisch-empiristischen, aber zugleich normativ-optimistischen Standpunkt (Vom Rechte, 1893; Gerechtigkeit, 1893; Unmoralischer Vertrag, 1896; Freiheit der Berufswahl, 1898). Seine Arbeiten sind geprägt durch gewissenhafteste Genauigkeit, Gesetzestreue und konstruktive Wucht (Titze) in der Dogmatik und strengste Geschichtlichkeit im röm. Recht. Ihren Charakter verdanken sie der empirisch-methodischen Energie, mit der L. eine Generation vor Wenger das romanistische Untersuchungsfeld komparativ auf die ganze Antike erweiterte und im Arbeitsrecht alles erreichbare Material heranzog und dogmatisch durchbildete.

Die Voraussetzungen von L.s Denken und Handeln liegen gleichermaßen in privatrechtlicher Romanistik, empirisch fortgedachtem Kantianismus, sozial abgesichertem Liberalismus und politisch engagiertem Positivismus. Die Arbeitsteilung von Moral, Politik und Gesetz geriet bei ihm nicht legalistisch oder idealistisch einseitig, sondern erfüllte sich in einer humanen, fruchtbaren und kritisch offenen Legalität. Seiner Zeit war L. damit weit voraus. Eine adäquate Würdigung steht noch aus.«

Rückert, Joachim, in: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 241 f.

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