Friedrich Gundolf

»Literarhistoriker, * 20.6.1880 Darmstadt, † 12.7.1931 Heidelberg. (israelitisch)

Gundolf besuchte – wie Stefan George und Karl Wolfskehl – das Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt. Er studierte in München, Heidelberg und Berlin deutsche Literatur- und Kunstgeschichte, gefördert durch akademische Lehrer wie Erich Schmidt, Roethe und Wölfflin. Von Dilthey und Bergson philosophisch angeregt, von George der neuen Dichtung gewonnen, wandte er sich nach seiner Promotion in Berlin 1903 über ›Caesar in der deutschen Literatur‹ und seiner Habilitierung in Heidelberg 1911 dem Lehramt an der Universität Heidelberg zu. Mit Unterbrechung durch den Heeresdienst im 1. Weltkrieg (1916–18) lehrte er hier neuere deutsche Literatur, seit 1916 als außerordentlicher, seit 1920 als ordentlicher Professor. Durch ihn und andere bedeutende Gelehrte, mit denen er auch befreundet war, wie Max Weber, Alfred Weber, Eberhard Gothein, Ludwig Curtius, Ernst Robert Curtius, Karl Jaspers und andere, gewann die Universität Heidelberg als Stätte ›lebendigen Geistes‹ ein hohes internationales Ansehen. Eine Berufung nach Berlin auf den Lehrstuhl von Erich Schmidt lehnte Gundolf 1920 ab.

Gundolf trat als Dichter, Übersetzer, Herausgeber und Verfasser literaturwissenschaftlicher Bücher hervor. Seine frühen Dichtungen, die in den ›Blättern für die Kunst‹ erschienen, folgen den Bahnen von Georges Gedichten, ohne jedoch deren feste Konturen zu erreichen. Sie feiern in leicht verschwebenden Klängen der Klage, des Dankes, der Trauer und des Stolzes den Einklang jungen Lebens mit einer durch die Schönheit verklärten Welt, oft eingekleidet in mythische Bilder von Orpheus und Eurydike, Hermes Psychopompos u.ä. Andere versuchen in der Form von Zwiegesprächen, in denen Gundolfs Neigung zur Antithese sich auswirkt, die oft auch seine wissenschaftlichen Darstellungen kennzeichnet, im Gleichnis historischer oder mythischer Gestalten die Fülle der Gesichte, Gedanken und Träume festzuhalten, zu begrenzen und zu bestimmen. Die in einem Band gesammelten ›Gedichte‹ von 1930 bringen in eigenem Ton tiefes persönliches Erleben aus frühen und späten Jahren zum Ausdruck: bedrängende und gefährdete Liebe, Verbundenheit mit Freunden wie Wolfskehl, Max Weber, Wilhelm Furtwängler, Gedanken über die Zeit und die eigene Aufgabe in ihr, Bereitschaft zum Tod nach einem sinnerfüllten Leben, und in allem das Glück des Erkennenden: ›Ich habe tief gewußt hienieden / Was groß und schön war, tat und sann.‹

Als Übersetzer wagte sich Gundolf an eine neue Verdeutschung von Shakespeare, jedoch zum Teil unter Beibehaltung oder Überarbeitung der Schlegel-Tieckschen Ausgabe. Nur wo diese seinem an George geschulten Sprachgefühl nicht genügte, wie in Coriolan, Romeo und Julia, König Lear, Macbeth und anderen, übersetzte er neu. In der Herausgabe von Zeugnissen der klassisch-romantischen Literaturepoche bekundete er seine Vorliebe für die Goethezeit, mit dem ›Jahrbuch für die geistige Bewegung‹ trat er an der Seite von Friedrich Wolters im Geiste Georges dem modernen Zeitgeist entgegen und wurde deshalb vor allem von Rudolf Borchardt heftig angegriffen. Nachhaltiger als mit dieser zeitbedingten Polemik und mit seinen dichterischen Veröffentlichungen wirkte Gundolf durch seine wissenschaftlichen Darstellungen und Werkmonographien, in denen er seine künstlerische Begabung mit seinem ausgedehnten Wissensdrang vereinigt und einen neuen Typ der Literaturgeschichtsschreibung gebildet hat. Auch auf diesem Gebiet wurde er durch George angeregt, mit dem ihn schon seit seinem 19. Lebensjahr eine entscheidende Freundschaft verband. Sein unmittelbares Bekenntnis zu George in ›Gefolgschaft und Jüngertum‹ (1909) und anderen Reden und Schriften über den Dichter prägte lange seine gesamte literarische Produktion in ihren Grundzügen. Der im ›Jahrbuch für die geistige Bewegung‹ erschienene Aufsatz ›Vorbilder‹, 1921 unter dem Titel ›Dichter und Helden‹ (1923) veröffentlicht, kann als Grundriß für Gundolfs wissenschaftliche Werke im Zeichen Georges gelten. In seinen Vorlesungen und Schriften vertiefte Gundolf die geistesgeschichtliche Richtung der deutschen Literaturwissenschaft, in dem Bestreben, die Eigenart des Kunstwerks und seines Schöpfers außerhalb rein historischer und psychologischer Kategorien zu erfassen. Überzeugt davon, daß in der Geschichte sich durch Werke und Taten großer Menschen ein ›ewiger Sinn‹ darstelle, vergegenwärtigte er in seinen Büchern über Cäsar, Shakespeare und Goethe über die Einzelerscheinungen und -ereignisse hinaus das Wesen der Dichter und Täter und verfolgte ihre Wirkungsgeschichte durch die Jahrhunderte. Philologie und Psychologie waren ihm zwar Grundlage, aber doch nur Vorstufen seiner Ganzheitsschau. Da er nicht nur den Stoff ausbreiten und vortragen wollte, gab er auch der wissenschaftlichen Darstellung künstlerische Form in einer gehobenen, teils dichterischen, teils philosophisch geprägten Sprache. Obwohl er in der staatsmännischen Genialität Cäsars, in der Weltweisheit Shakespeares und in der Humanität Goethes Maß und Vorbild alles Menschlichen sah, von dem aus er auch andere Persönlichkeiten beurteilte, zum Beispiel Kleist und die Romantiker, blieb er doch offen für den Reichtum geschichtlichen Lebens und die Vielfalt der Erscheinungen und erschloß in zahlreichen Veröffentlichungen Leben und Werke von Dichtern und Schriftstellern seit der Reformation – von Hutten bis zu George und Rilke. In seinen späteren Arbeiten gab Gundolf den festen Anschluß an das Weltbild Georges auf, obwohl er auch nach persönlicher Trennung seine Verehrung für George bewahrte. Er wandte sich aber neuen Bereichen des Wissens und der Bildung zu und gab in seinem Werk ›Romantiker‹ (1930, Neue Folge 1931) auch der romantischen Seite seines Wesens Ausdruck. In seinem letzten Shakespeare-Buch, in ›Shakespeare – Sein Wesen und Werk‹ (2 Bände, 1928, 1949), versöhnte er die sich in ihm widerstreitenden Tendenzen des Klassischen und des Romantischen und gewann die Genialität seines Aufbruchs, die in ›Shakespeare und der deutsche Geist‹ (1911, 1947, Neudruck 1959) so viele mitgerissen hatte, auf der Stufe reifer Welterfahrung wieder.

Sieht man nun Gundolf an der Seite Georges oder nicht, in beiden Fällen bleibt er eine selbständige, außerordentliche Persönlichkeit, die den literarischen Geist des frühen 20. Jahrhunderts maßgebend repräsentiert. Eine eigentliche Schule hat Gundolf nicht gebildet, er hat vielmehr die gesamte Blickrichtung der Literaturwissenschaft gewandelt, indem er sie auf die geistigen Höhepunkte und Zusammenhänge lenkte und damit die bisherige biographische Methode überwand. Mit der bald nach Gundolfs Tod einsetzenden Politisierung der Wissenschaft im Nationalsozialismus wurde Gundolfs Nachwirkung radikal aufgehoben. Aber auch die Entwicklung nach 1945 war seinem Nachruhm nicht günstig: neue Ansätze und Methoden in der Literaturwissenschaft (Interpretationsmethode, Formanalyse, Literatursoziologie) und das Mißtrauen gegen Gundolfs Darstellung großer Persönlichkeiten als überzeitlicher Gestalten und gegen seine heroische Geschichtsauffassung verdeckten seine in der Geschichte dieser Wissenschaft richtungweisenden Leistungen. Eine Neubesinnung mag die Werke Gundolfs strenger sichten, aber auch sein Schaffen und seine Bedeutung in ein neues Licht rücken. Ein wichtiger Beitrag dazu ist der von Robert Boehringer mit G. P. Landmann herausgegebene Briefwechsel Gundolfs mit Stefan George, der nicht nur als Ausdruck der tragisch endenden persönlichen Beziehungen ergreift, sondern auch ein Zeugnis ist für die großen geistigen Spannungen und Leistungen im Wirkungskreise Gundolfs.«

Schmitz, Viktor, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 319–21

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